Situationsarchitektur

Die Bauten und Anlagen für die XX. Olympischen Sommerspiele 1972 in München kündigten mit großer internationaler Aufmerksamkeit eine neue Epoche der jungen Bonner Republik an. Die Vision einer weltoffenen Gesellschaft und der Wunsch nach einem grundlegenden demokratischen Wandel fand ihren architektonischen Ausdruck in der schwingenden Dachkonstruktion über sanft gewellten Landschaftsformen ebenso wie in den frischen, klaren Farben. Das Ensemble wurde weltweit als hoffnungsvolles Zeichen einer gesellschaftlichen und demokratischen Erneuerung der Bundesrepublik nach der Gewaltherrschaft des „Dritten Reiches“ begriffen.

Aus den Leitmotiven „Olympische Spiele im Grünen und der kurzen Wege“ sowie den Eigenschaften „jugendlich, fröhlich und beschwingt“ entwickelten Günter Behnisch und seine Partner Fritz Auer, Winfried Büxel, Erhard Tränkner und Carlo Weber mit Jürgen Joedicke das visionäre Konzept einer modellierten Architekturlandschaft. Unter dem Begriff „Situationsarchitektur“ entstanden in Mulden eingefügte Stadien- und Hallenkörper, überspannt mit einem transparenten, technisch innovativen Zeltdach. Günter Behnisch verstand darunter keine fest vorgegebene Formvorstellung, sondern einen offenen Entwurfsansatz. So sollte die bauliche Gestalt aus den Bedingungen der Aufgabe, aus den vorgefundenen Charakteristika des Ortes und mit den beteiligen Personen schrittweise entwickelt werden. Visionäre Ideen, Vorbilder, Wissen und Ideale aller Beteiligten konnten in den kreativen Prozess des Entwerfens einfließen und sich mit den Leitmotiven, den Bedingungen der Aufgabe und der technischen Umsetzung im Bauprozess verknüpfen. Diese prozessartige Vorgehensweise sollte das gesamte spätere Werk von Günter Behnisch prägen.

„Situationsarchitektur – das sollte heißen: die architektonische Lösung liegt in der Situation und entsteht aus der Situation, durch die in der Situation wirksamen Kräfte. Diesen zunächst in der unsichtbaren Welt existierenden Kräften, Kräftekonstellationen wollten wir zu einer Existenz in der Welt der sichtbaren Gegenstände verhelfen.“
Günter Behnisch 1977

Bauten und Anlagen für die XX. Olympischen Spiele 1972, Stadion / Sporthalle / Schwimmhalle

München
1967-1972
Behnisch & Partner

Um die gestalterisch wie technisch anspruchsvolle Wettbewerbsidee aus Architektur, Landschaft und Zeltdach realisieren zu können, war die kongeniale Zusammenarbeit von Behnisch & Partner und Jürgen Joedicke mit zahlreichen Architekten, Ingenieuren und Gestaltern von entscheidender Bedeutung. Nicht alle Mitwirkenden konnten in der folgenden Aufstellung berücksichtigt werden.

Gesamtentwurf Olympiapark:
Behnisch & Partner, Günter Behnisch, Fritz Auer, Winfried Büxel, Erhard Tränkner, Carlo Weber mit/with Jürgen Joedicke

Landschaftsarchitektur:
Günther Grzimek mit Behnisch & Partner

Hauptsportstätten:
Behnisch & Partner

Überdachung der Hauptsportstätten:
Behnisch & Partner, Frei Otto mit Ewald Bubner und Berthold Burkhardt, Leonhardt + Andrä mit Jörg Schlaich

Projektarchitekten:
Johannes Albrecht, Jörg Bauer, Hans Beier, Helmut Beutel, Gerd Eicher, Horst Friedrichs, Godfrid Haberer, Eberhard Heilmann, Lothar Hitzig, Wolfgang Illgen, Christian Kandzia, Karla Kowalski, Jürgen Krug, Frohmut Kurz, Jürgen Langer, Konrad Müller, Lucio Parolini, Hermann Peltz, Wendelin Rauch, Peter Rogge, Berthold Rosewich, Adolf Schindhelm, Horst Stockburger, Cord Wehrse, Udo Welter, Wilfried Wolf, Ulrich Zahn

Visuelles Erscheinungsbild:
Otl Aicher

Ideen- und Bauwettbewerb für die Bauten und Anlagen für die XX. Olympischen Spiele in München 1972

Am 13. Oktober 1967 standen Behnisch & Partner mit Jürgen Joedicke unter den 101 eingereichten Arbeiten als Wettbewerbssieger fest. Das Preisgericht unter dem Vorsitz von Egon Eiermann entschied sich fast einstimmig für den außergewöhnlichen Entwurf, zweifelte jedoch an der Realisierbarkeit der weitgespannten leichten Zeltdachkonstruktion. Die Idee entstand erst kurz vor der Abgabe des Wettbewerbs nach dem Vorbild des Deutschen Pavillons auf der Weltausstellung in Montreal (Frei Otto und Rolf Gutbrod).

„Eigentlich wollten wir gar kein Dach, weil dem Entwurf nicht die Vorstellung zugrunde lag, Häuser zu bauen, sondern Sport in der Landschaft zu schaffen.“
Günter Behnisch 2001
„Die Olympischen Spiele und Anlagen 1972 sollten als ein Appell an die Welt begriffen werden, Deutschland wieder in den Kreis der zivilisierten Nationen aufzunehmen.“
Günter Behnisch 2001

Die Spielstraße

Werner und Anita Ruhnau konzipierten die „Spielstraße“ als Kontrast zum traditionellen Kunstund Kulturprogramm und den konventionellen Museumsausstellungen des Organisationskomitees. Das avantgardistische Straßentheater mit vielfältigen experimentellen Kunstaktionen auf dem Oberwiesenfeld war die einzige Kunstform mit politisch-kritischen Inhalten. Nach dem Attentat auf die israelischen Sportler vom 5. September 1972 wurde es jedoch nicht weitergeführt.

Visuelle Gestaltung

Eine völlig neue Außendarstellung der Bundesrepublik im Sinne einer Corporate Identity vermittelte die visuelle Gestaltung von Otl Aicher. Er entwickelte eine neuartige Bildsprache aus Piktogrammen, Zeichen und Formen, um Kommunikation, Orientierung und einen Ablauf der Spiele ohne Sprache zu ermöglichen. Die lichten und frischen Farben, angelehnt an die Farbigkeit der bayerischen Natur, sollten die Olympischen Spiele in ein unverwechselbares Stimmungsbild mit einem gelösten, heiteren und toleranten Charakter tauchen.

„Otl Aicher konnte in Bildern denken und er konnte mit Bildern Inhalte weitergeben. Bilder, die ja viele Bezüge mitbringen, mehr als das sachlich begrenzte Wort. Bilder sind poetisch von sich aus.“
Günter Behnisch 1998

Lageuntersuchungen für die Sportstätten im Wettbewerb

Während der Bearbeitung des Wettbewerbs untersuchte das Team unterschiedliche Lageplanfiguren zur möglichen Positionierung von Stadion, Sport- und Schwimmhalle auf der flachen Ebene des Oberwiesenfelds, gezeichnet von Carlo Weber. Standorte sowohl nördlich als auch südlich der Verkehrsschneise des Mittleren Rings kamen dazu in Betracht. Ebenso waren das Olympische Dorf und eine Zentrale Hochschulsportanlage unterzubringen.

„In der Situationsarchitektur sind architektonische Vorstellungen zunächst unabhängig – auch unbeeinflußt von Konstruktion und Material. Die architektonische Antwort auf die Forderung Olympiade im Grünen, jugendlich, heiter z. B. heißt: ‚olympische Landschaft’, und nicht: ‚Zweirang-Stadion aus Stahlbeton’. Und die Antwort auf: Regenschutz für bestimmte Situationen heißt:‚leichter Regenschirm’ und nicht: ‚parabolisches Hyperboloid’, ‚leichtes Flächentragwerk’ oder schon gar nicht ‚Betonschale’.“
Günter Behnisch 1972

Die Suche nach einer technisch realisierbaren Zeltdachlösung

Für die Dachidee nach dem Vorbild des Deutschen Pavillons für die Weltausstellung 1967 in Montreal (Frei Otto und Rolf Gutbrod) mussten aufgrund der um das Zehnfache größeren Dimension neue konstruktive Lösungen gefunden werden. Behnisch & Partner entwickelten mit Unterstützung verschiedener Ingenieure zahlreiche Varianten, doch erst Frei Otto gelang die Lösung: Er teilte die Dachfläche über dem Stadion in einzelne Segmente und hängte sie an hinter den Tribünen stehenden Stützen auf.

Die Überlegungen zur Eindeckung des Daches umfasste unter anderem einen Vorschlag aus Holz, den die Olympia-Baugesellschaft aufgrund der stabilisierenden Schalenwirkung bevorzugte. Behnisch & Partner planten in diesem Zusammenhang auch das punktgestützte Hängedach für die Bundesgartenschau Euroflor in Dortmund 1969, das sogenannte Sonnensegel.

Montage und Eindeckung des Daches

Für die Dachhaut aus transparentem Acrylglas entschied sich der Bauherr erst, nachdem die Fernsehsender ARD und ZDF – die ein Großereignis zum ersten Mal in Farbe ausstrahlten – eine durchsichtige Überdachung gefordert hatten. An der Durcharbeitung der Details wirkten zahlreiche Firmen mit, so zum Beispiel bei der Entwicklung der Seile, beim Plexiglas für die Dachhaut und der Verbindung zum drehbaren Knoten des Seilnetzes. Zur Montage wurde das Netz mit den zuvor maschinell aufgepressten Knoten über den Tribünen ausgelegt, vor Ort verschraubt und dann nach einem ausgeklügelten Konzept hochgezogen, vorgespannt und eingedeckt. Sport- und Schwimmhalle erhielten eine untergehängte Klimahülle aus PVC-beschichtetem Polyestergewebe mit einer plissierten Füllung.

Konstruktiondetails des Daches

Die Entwicklung der gesamten Netzkonstruktion mit sämtlichen Netzdetails war die Aufgabe der Ingenieure von Leonhardt und Andrä unter der Federführung von Jörg Schlaich. Er entdeckte für die zahlreichen, jeweils unterschiedlichen Knotenpunkte, Mastköpfe und Spannglieder zur Kraftumlenkung die Stahlgusstechnologie wieder, deren Formteile nun nicht mehr aus Holz, sondern aus Styropor geformt wurden. Unter den unterschiedlichen Fundamenttypen erscheinen das Widerlager des großen Stadionrandkabels und dessen noch nicht im Spannblock verankerte Litzenbündel besonders eindrucksvoll. Die Betonkonstruktion das Stadions plante der Schweizer Schaleningenieur Heinz Isler, der zuvor die konstruktive Beratung im Wettbewerb übernommen hatte.

„Das Dach zeigt uns allen, welche Kraft architektonische Ideen beinhalten können, welche Energien sie freisetzen können, und widerlegt alle die Architekten und Planer, die ihre Arbeit opportunistisch als Vollzugsbeamte der sogenannten‚ bestehenden Verhältnisse‘ erledigen.“
Günter Behnisch 1971

Besucherversorgung und temporäre Restaurants

Günter Behnisch lud bewusst avantgardistische und experimentierfreudige Architekten und Künstler aus unterschiedlichen Bereichen für die kleinen Aufgaben ein. Dazu zählten auch die Grazer Architekten Günther Domenig und Eilfried Huth, die zusammen mit Behnisch & Partner das futuristisch anmutende Restaurant Nord planten. Der Münchner Architekt Peter Lanz realisierte das Restaurant Süd.

„Mit den Olympischen Spielen wollte doch Deutschland sich vorstellen. Das war die allgemeine Stimmung, nicht nur derjenigen, die dort das Sagen hatten. Da wollte sich Deutschland vorstellen als das neue freie Deutschland, das nicht ausschließlich den materiellen und organisatorischen Prinzipien nachläuft.“
Günter Behnisch 1977

Pavillon in der Schwimmhalle

Günther Domenig und Eilfried Huth konzipierten ebenfalls den Restaurantpavillon im Eingangsbereich der Schwimmhalle. Die frei begehbare organische Plastik aus geschweißtem und gebogenem Rundstahl in Hellblau ist mit einer Verkleidung aus Chromnickel-Stahlgewebe umfasst. Offen gezeigte technische Elemente werden durch ihre rote Farbe noch zusätzlich herausgehoben.

„Man kann auch bei einer schweren Arbeit pfeifen und singen. Ich meine sogar, daß es darauf ankommt, daß man bei einer schweren Arbeit pfeift und singt.“
Günter Behnisch 1972

Das Landschaftskonzept

Gemäß dem Leitbild einer „Olympiade im Grünen“ kam der Landschaftsgestaltung eine tragende Rolle zu. In dem von Behnisch & Partner entwickelten und von Carlo Weber gezeichneten Konzept sind alle wesentlichen Elemente der Situationsarchitektur zusammengefasst: überörtliche Bindungen zu den Parkanlagen und zur Innenstadt Münchens, vorhandene Elemente, künstlicher See, Modellierung des Geländes, Schaffung überörtlicher Grünverbindungen, Bauten im Gelände, Verkehr und Prinzipien der Grünplanung.

Die Planung der Landschaft

Der Landschaftsarchitekt Günther Grzimek entwickelte das Grundkonzept von Behnisch & Partner zu einer vielschichtigen „Gebrauchslandschaft“ weiter. Viele Elemente konnten nicht im Plan vorgegeben werden, sondern entstanden in intensiver Zusammenarbeit zwischen Architekten, Landschaftsplanern, der Münchner Stadtgartendirektion – und den Baggerfahrern direkt vor Ort.

Wege, Oberflächen und Beleuchtung

Günther Grzimek teilte die Wege in ein Geflecht von befestigten, stärker frequentierten Hauptwegen auf den Dämmen, kleinen Nebenwegen und Pfaden auf, um den Charakter breiter Aufmarschstraßen zu vermeiden. Unterschiedliche Oberflächen aus Kies, Schotterrasen oder Pflaster sowie die neu entwickelte „Olympia-Mastix“ garantierten eine natürliche Erscheinung ohne Asphaltcharakter. Auch das Beleuchtungskonzept war auf die jeweilige landschaftliche Situation abgestimmt.

„Mit der architektonischen Konzeption ‚Architekturlandschaft’ wird es möglich, – unter Wahrung der Eigenheiten der vielen verschiedenartigen Teile – eine architektonische Gestalt zu schaffen, die der Bedeutung der Aufgabe und der Situation entspricht. Gebautes und Landschaft, Vorhandenes und Hinzukommendes […] – all das kann sich nach eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln, verknüpft sich miteinander und formt sich zur architektonischen Gesamtgestalt.“
Günter Behnisch 1975

Übergänge zwischen Bauten und Landschaft

Große Sorgfalt widmeten Behnisch & Partner den Übergängen zwischen Bauten und Landschaft, zwischen innen und außen wie auch der Einfügung von Kleinbauten und Möblierungen. Elemente und Details entstanden aus der jeweiligen Situation und deren Eigencharakter heraus, nicht nach einem einheitlichen Gestaltungsprinzip. Die Grenzen der Einzelbauten wurden durch transparente Raumabschlüsse aufgehoben und Geländeformen, Böden und Grün in die Hallen hineingezogen.

„Eine Landschaft ist eine Gesamtgestalt, die aus vielen Hierarchien von weiteren Gestalten besteht. Das müssen Sie bei einem Gebäude genauso halten. Sie müssen eine Gesamtgestalt finden und sie hierarchisch in Einzelgestalten auflösen. Dann paßt das dem Wesen nach in die Landschaft, denn das Gebäude geht mit der Gesamtgestalt Landschaft überein.“
Günter Behnisch 1977

Situationen in der Landschaft

Mit wenigen Ausnahmen folgen die vielfältig differenzierten Situationen dem Prinzip einer „organischen Plastik“ aus Landschaftselementen – Berg, Dämme, Mulden, Wege, See, Bäume, Sträucher, Wiesen etc. Die topografischen Grundelemente bieten entsprechend der sozialen Bedürfnisse des Menschen nach Privatheit und Kommunikation unterschiedliche Angebote zum Rückzug oder zur aktiven Aneignung an. Ruhige Nischen wechseln sich ab mit offenen Bereichen für Spiel, Sport oder kommunikative Aktivitäten.

„Architektonische Vorstellungen sind zunächst untechnisch oder nichttechnisch, sie sind wohl mehr vom Weltbild, von Idealvorstellungen gelenkt, wahrscheinlich sind es Träumen verwandte Visionen.“
Günter Behnisch 1972

Nachnutzung

Die Nachhaltigkeit des Landschaftskonzepts über die Spiele hinaus war ein grundlegendes Planungsziel. Günther Grzimek schuf einen Ort für den täglichen Gebrauch mit „Aufforderungscharakter“ – für die aktive Freizeitgestaltung der Menschen und als Ausgleich für die in der Stadt zurückgedrängten Grünräume. Ihm gelang die Realisierung einer sozialen Utopie, welche die gesellschaftlichen Umbrüche in den 1960er-Jahren widerspiegelt: Es werden keine Vorgaben für die Nutzung gemacht, sondern Angebote geschaffen, die eine größtmögliche Freiheit und selbstbestimmte Aneignung ermöglichen.